Listening in the Mountains
Der Musikwissenschaftler Marcus Zagorski schreibt über verschiedene Aspekte des Musikhörens in den Bergen und der Natur.
Ein Konzert in den Bergen bietet eine Gelegenheit, auf neue Weise zu hören, und mehr als die Musik, die gespielt wird, zu hören. Erholung in den Bergen ist jedoch eine relativ neue Idee. Die Alpen waren in den vergangenen 2000 Jahren über lange Zeit kein Ort zur Muße, sondern ein Ort schrecklicher Gefahren: die Heimstatt von Dämonen und Hexen sowie Wölfen und Bären. Die Vorstellungen über eine unbekannte Bergwildnis aus dem Reich der Phantasie wurden erst in den letzten Jahrhunderten überwunden. Noch im 18. Jahrhundert behauptete beispielsweise der Schweizer Naturforscher und Professor für Physik in Zürich, Johann Jacob Scheuchzer, dass die große Anzahl an Höhlen in Graubünden wahrscheinlich den Eindruck vermittelt, «dort Drachen zu finden».
Doch während die einen die Alpen fürchteten, wurden sie von anderen verehrt. Bevor die christlichen Missionare kamen und vor Dämonen und Drachen warnten, sahen die Kelten in den Gipfeln die Heimat der Götter (ein Glaube, der an die Vorstellung der alten Griechen vom Berg Olymp als Wohnstätte von Zeus erinnert). Die Ehrfurcht vor der Wildnis der Berge wurde während der christlichen Zeit unterdrückt, kehrte aber allmählich zurück, als das Zeitalter der Aufklärung den Aberglauben verbannte und eine neue Wertschätzung für die Natur mit sich brachte. In der Folgezeit nahmen einige Dichter und Denker der Romantik die natürliche Welt als ihren Glauben und ihre Kirche an. Der englische Schriftsteller und Kunstkritiker John Ruskin kam häufig in die Alpen, um Heilung für seinen Geist zu finden. Er betrachtete die Berge als «große Kathedralen der Erde, mit ihren Felsentoren [...], Chören aus Bächen und Steinen, [und] Altären aus Schnee».
Diese «Chöre aus Bächen und Steinen», die Ruskin hörte, wurden auch von anderen gehört, und sie singen noch heute für diejenigen, die zuhören wollen. Der Dichter William Wordsworth überquerte zum Beispiel als junger Mann den Simplonpass, was ihn dazu inspirierte, die Klänge, die er hörte, in einem Gedicht festzuhalten, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollte: «The Prelude» (dt. Präludium). Darin schrieb er über «Die Felsen, die dicht an unseren Ohren murmelten, / Schwarze, tröpfelnde Klippen, die am Wegesrand sprachen / Als ob eine Stimme in ihnen wäre [...]» Und ich selbst, wenngleich ich kein Wordsworth bin, habe dieselbe Stimme gehört. Sie sang zu mir aus einem Gebirgsbach in Kalifornien, in einem Moment der Einsicht und des Verständnisses, der zu den magischsten Erfahrungen meines Lebens gehört. Als ich der Stimme des steinernen Baches lauschte, war ich wie verwandelt. Diese Transformation ging von einer Art Wildnis aus, die immer noch etwas von dem Mysterium und Wunder in sich trägt, die dem Rationalismus unserer modernen Welt entkommen sind. Das ist einer der Gründe, warum wir in die Berge gehen sollten: um zu hören.
Die Zeit, die wir in den Bergen verbringen, entreißt uns dem Lärm und Trubel der Städte, in denen die meisten von uns ihr Leben verbringen. Und ein Ort fernab vom Lärm und vom Trubel ist ein idealer Ort, um Musik zu hören. Die Bergwelt bietet eine Flucht aus einer Welt, in der unsere Sinne abstumpfen und unser Gespür für die Wunder des Universums nahezu verschwindet. Diese Flucht führt nicht in eine Welt der Phantasie, sondern in eine beständigere Realität: eine Realität, die vor uns da war und auch noch nach uns da sein wird. Diese Verbindung stellte Wordsworth in derselben Passage des oben zitierten Gedichts her: Er fand in dem Alpenpass «Die Urbilder und Symbole der Ewigkeit, / Vom Ersten und Letzten, und dem dazwischen, und ohne Ende».
Städte sind in der Tat voller Geräusche, aber keines dieser Geräusche hat irgendeine Bedeutung für uns, wenn wir unseren Alltag bestreiten. Wir hören den Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs, die Motoren und Reifen, die Hupen und Sirenen, die Mobiltelefone und die Gespräche anderer Menschen. Aber weil nichts davon Informationen vermittelt, die für uns auf dem Weg zur Arbeit oder zum Mittagessen relevant sind, verschließen wir unsere Ohren. Wir hören auf, zuzuhören. In den Bergen hingegen vermittelt jeder Klang wesentliche Informationen und hält unsere Aufmerksamkeit. Die Bergwelt lehrt uns, achtsam zuzuhören. Und wenn wir achtsam zuhören, können wir die Feinheiten der Musik, die wir lieben, mehr schätzen.
Wenn wir in unseren Alltag zurückkehren, wenn wir den Wanderweg verlassen und zurück in die Stadt gehen oder wenn das Konzert zu Ende ist, bringen wir neue Frische und Energie mit. Vielleicht kehren wir zu uns selbst zurück, mit dem Bewusstsein, dass es eine andere Seite der Existenz gibt – und wir wissen jetzt, wie wir dieser Gehör verschaffen. Ein Konzert in den Bergen bietet die Gelegenheit, Hören auf neue Art zu lernen, und die außergewöhnliche Schönheit und das Mysterium des Universums neu zu schätzen. Und während wir unser gewohntes Leben weiterführen, werden wir uns an die Zeit erinnern, die wir in den Bergen verbracht haben, und daran, mit neuen Sinnen zu hören und zu sehen.